* unter dem Prädikat „sehenswert“ poste ich Berichte aus aller Welt zu Orten, die man – meiner unmaßgeblichen Meinung nach – mal besucht haben sollte.
Two roads diverged in a wood, and I
I took the one less traveled by
And that has made all the difference.
(aus:”The road not taken” von Robert Frost)
Ein anderer Weg: Einfach mehr Zeit nehmen.
Die üblichen Neuengland-Rundreisen folgen der immer gleichen Route: Man startet in Boston, bewegt sich entlang der Küste nach Norden bis zum Acadia Nationalpark, schlägt hier die Richtung nach Westen ein, durchquert die White Mountains halblinks nach Süden, stößt hier auf die Green Mountains, folgt der Bergkette weiter südlich bis in die Berkshires, dreht dann nach Osten ab um in einem weiten Halbkreis über die Ferienorte der reichen New Yorker in Connecticut und Rhode Island an der Küste wieder zurück nach Boston zu gelangen. Dann sind zwei Wochen vorbei, die Bandscheiben von endlosen Straßenkilometern angeknackst und man hat einen guten Eindruck bekommen, was sich rechts und links der meist befahrenen Highways und Interstates befindet. Menschen mit viel Fantasie können sich vielleicht sogar vorstellen, wie schön diese Reise gewesen wäre, hätte man nur mehr Zeit gehabt, sie zu genießen.
Sicher, die ungeheuren Entfernungen in diesem Land verführen schnell dazu, sich mehr vorzunehmen, als man sinnvollerweise bewältigen kann. Auch Amerikaner oder Japaner auf Europareise erliegen häufig dieser Versuchung, die so treffend mit dem halb ironisch, halb ernst gemeinten Ausspruch „see Europe in ten days“ umschrieben wird. Wer diesen „Express-Tourismus“ vermeiden will, muss allerdings ein wenig Zeit in gute Vorbereitung stecken. Dabei braucht der Streckenverlauf selbst gar nicht ausgefallen sein – es hat meist gute Gründe, wenn sich immer gleiche Reiserouten im Pauschaltourismus behaupten. Viel wichtiger ist es, Prioritäten zu setzen, sich für bestimmte Abschnitte der Rundreise mehr Zeit zu nehmen und andere stattdessen auszusparen. Im hier geschilderten Beispiel wurde großzügig auf den „Halbkreis“ durch den Süden Neuenglands verzichtet (Connecticut, Rhode Island, Cape Cod) und stattdessen mehr Zeit auf die nördliche Küste und die White und Green Mountains verwendet.
Richtige Vorbereitung
Den Anfang macht man am besten, indem man sich von einem spezialisierten Reisebüro eine verkürzte Rundroute zusammenstellen lässt. Wer seine Strecke ohne Beratung selbst ausarbeitet, verschätzt sich leicht und nimmt sich Tagesdistanzen vor, die zu lange und kaum zu bewältigen sind. Strenge Tempolimits und einfache Straßenverhältnisse verlangsamen zwar das Reistempo, machen die Fahrt aber auch deutlich entspannter als in Europa. Ein gutes Reisebüro hat normalerweise auch bei der Auswahl der Etappenziele und Übernachtungsmöglichkeiten eine sichere Hand und wird mehr Wert auf Qualität als auf Quantität legen. Und manchmal hilft es sogar bei der Auswahl geeigneter und aktueller Reiseführer. Als wirklich guter Tipp erwiesen hat sich die aktualisierte Ausgabe von „New England“ (Ó 2023 Dorling Kindersley), die auch in deutscher Übersetzung erhältlich ist. Eine gute Ergänzung zu diesem Führer sind beispielsweise die Bücher aus dem Dumont-Verlag oder von Vista.
Boston – das Beste aus der alten und der neuen Welt
Start- und Endpunkt der Reise wird sicherlich in jedem Fall Boston sein – eine Stadt, die alleine schon Urlaubsqualität für mehrere Tage oder sogar Wochen zu bieten hat. Hier stand die Wiege der amerikanischen Unabhängigkeit und hier findet man auf kleinstem Raum alles, was in Amerika von sich behaupten kann „historisch“ zu sein.(Europäer freilich werden sich ein Grinsen kaum verkneifen können, wenn gerade mal hundertjährige Gebäude stolz als „ancient“ angepriesen werden.) Darüber hinaus ist Boston ein Paradies für Flaneure – endlose Nachmittage kann man am Hafen und am Charles River, in der Fußgängerzone und den zahllosen Grünanlagen verbummeln. Auch Kunst- und Kulturfans kommen auf ihre Kosten, denn Boston ist nicht nur Sitz der berühmten Philharmoniker, sondern auch etlicher hochkarätiger Museen und einer lebendigen Theaterszene. Last but not least ist die Stadt ideal zum Shoppen – zwar hat das legendäre Schnäppchenparadies „Filene’s Basement“ aufgrund der Finanzkrise sein einhundertjähriges Jubiläum nicht mehr erreicht – doch zwischen Downtown Crossing und Faneuil Hall Marketplace finden sich zahllose andere Kaufhäuser, kleine Boutiquen und Geschäfte. Hier werden sogar Einkaufsmuffel in Rekordgeschwindigkeit fündig. Mit Tüten bepackt gönnt man sich dann im Quincy Market mit seinen Cafés, Bäckereien, Imbissbuden und Restaurants eine Stärkung. Einer der wenigen Orte, an den man die typisch neuenglische „Clam Showder“ zu halbwegs vernünftigen Preisen bekommen kann.
„Quack-Quack“ mitten im Charles River
Wer sich für Stadturlaub nicht wirklich interessiert und nur schnell einen groben Überblick bekommen will, hat mehrere Möglichkeiten. Die wohl bekannteste ist eine Trolley-Rundfahrt, bei der man ein Tagesticket erwirbt und entlang der Rundstrecke so oft in die offenen Trolley-Busse ein- und aussteigen kann, wie man möchte. Anstrengender, aber lohnend ist eine Führung bei den „Walking Tours of Boston“ – hier gelangt man „per Pedes“ auch in verborgene Winkel und kann so manchen Blick hinter die Kulissen werfen. Am schnellsten und amerikanischsten ist die Stadt-Land-Fluß-Rundfahrt mit „Ducktours“. Verkleidete „ConDUCKtors“ chauffieren Gruppen von 20 bis 25 Personen in restaurierten Amphibienfahrzeugen aus dem zweiten Weltkrieg durch die Stadt – und auch ein Stück durch den Charles River. Dabei berichten sie durchaus fundiert von Geschichte und Kultur Bostons, allerdings gewürzt mit zeitgenössischen Anekdoten und allerlei Sprüchen, die sich ganz nach Stil, Geschmack und Humor des jeweiligen „ConDUCKtors“ richten. Ein Warnhinweis vorab: die lauten „Quack-Quack-Rufe“, zu denen die Teilnehmenden während der Tour regelmäßig aufgefordert werden, ist nicht jedermanns Sache…
Übernachten sollte man möglichst zentral und verkehrsgünstig, z.B. in der Hafengegend oder in einem der kleinen Guesthouses in der von Backsteinhäusern geprägten Back Bay (Ally McBeal lässt grüßen) – auch hierbei hilft sorgfältige Vorbereitung und ein gutes Reisebüro.
Der nördliche Küstenstreifen
Wer von Boston schließlich genug hat, kann ruhig weiter vorgegebenen Pfaden folgen, also entlang der Atlantikküste nach Norden. Doch vor Enttäuschungen sei hier ausdrücklich gewarnt: Die Küste ist schön, wunderschön sogar, aber sie ist nicht öffentlich. Die besten Fleckchen sind fast alle in Privatbesitz. Am deutlichsten zeigt sich das rund um Ogonquit und Kennebunkport, wo sich bis auf einige öffentlich zugängliche (und meist kostenpflichtige) Strände ein nobles „Sommerhäuschen“ ans nächste reiht – bis hin zur riesigen und von Personenschützern bewachten Bush-Residenz am Cape Porpoise. Eine der seltenen Ausnahmen ist die weite Marschlandschaft von Plum Island zwischen Boston und Newburyport, wo man nicht nur baden, sondern auch wandern und mit etwas Glück seltene Seevögel beobachten kann – aber gerade hier rauschen die meisten Pauschaltouristen achtlos und gehetzt vorbei. Für solche rar gewordenen Landstriche lohnt es sich immer noch, kürzere Tagesstrecken einzuplanen und ein paar Stunden innezuhalten.
Auch für Camden weiter nördlich darf man ruhig etwas mehr Zeit vorsehen – einerseits, um die Gastlichkeit, das hervorragende Essen und die umfangreiche Weinkarte z.B. im pittoresken und traditionsreichen „Whitehall Inn“ ausgiebig zu würdigen und andererseits, um zu Fuß oder mit dem Wagen den Mount Battie zu erklimmen und von dort die herrliche Aussicht über Stadtkern und Hafen zu genießen. Gleich hinter Camden folgt die Penobscot Bay, die ebenfalls zum Trödeln einlädt – z.B. indem man mit dem Boot einige kleinere und weniger überlaufene Inseln besucht.
Mount Desert Island
Mindestens zwei Tage, besser aber noch mehr, sollte man für den Acadia Nationalpark/ Mount Desert Island einplanen. Die Halbinsel gehört zwar durchaus zu den „Massenzielen“, trägt ihren legendären Ruf jedoch völlig zu Recht. Von der Natur begünstigt wie kaum ein anderer Küstenabschnitt und durch Großzügigkeit und Weitblick der Familie Rockefeller (die große Teile der Halbinsel aufkaufte und zum Naturpark machte) vor der sonst üblichen Zersiedelung und „Privatisierung“ der Küste verschont geblieben, hat sich Acadia viel von seinem ursprünglichen Zauber bewahrt. Waldgesäumte Buchten mit feinem Sandstrand finden sich hier ebenso wie schroffe Steilküsten, in denen noch Falken nisten.
Die Schönheit und Vielfalt dieses Nationalparks lässt sich am besten „hautnah“ erleben, beim Radfahren auf den „Carriage Roads“, beim Klettern oder Wandern, beim Paddeln und Kajakfahren auf den Seen oder zwischen den vorgelagerten Inselchen. Auch kommerziell organisierte Whale-Watching-Touren und die Teilnahme an einem der vielen (und häufig sogar kostenlosen) Ranger-Programme lohnen sich unbedingt. Übernachten sollte man in Bar Harbour. Die Stadt ist zwar relativ touristisch, aber als Ausgangspunkt für Ausflüge und Unternehmungen bestens geeignet und sie verfügt über ein breit gefächertes Angebot an Hotels und Restaurants. Eine gute Adresse ist beispielsweise das „Quimby House“ – zentral und doch ruhig in einer Seitenstraße gelegen, mit großzügigen Zimmern und mehrstöckiger Veranda, die von den Gästen mitgenutzt werden kann.
Wetter und Wandern in Neuengland
An dieser Stelle ein paar Worte zum Wetter – Mark Twain wird ein verbreitetes Sprichwort zugeschrieben: „If you don’t like New England weather – wait a minute!“ Und er hat recht damit – hier hält sich keine Schlechtwetterlage allzu lange. Davon abgesehen ist Neuengland beinahe immer schön, selbst bei Nebel und Nieselregen hat die Landschaft ihren Reiz. Wer daran zweifelt, sollte z.B. einmal Leuchttürme im dichten Küstennebel besichtigten. Freizeitwanderer sind allerdings besser damit beraten, auf Sonnenschein zu warten, denn neuenglische Wanderwege sind steil und steinig und im nassen Zustand rutschig und sehr schwer zu begehen.
Diese Tatsache sollte man gerade in Maine und im nördlichen New Hampshire immer im Gedächtnis behalten, egal, ob man sich auf Mount Desert Island am „Precipe Trail“ und am „Beehive“ versucht – beides recht anspruchsvolle Klettersteige, die man nur mit guter Ausrüstung und körperlicher Fitness angehen sollte – oder ob man sich einen der vielen Wanderwege in den White Mountains vorgenommen hat. Hinzu kommt, dass sowohl an der Küste wie auch oberhalb der Baumgrenze in den alpin wirkenden Gebirgszügen der „Whites“ das Wetter sehr schnell umschlagen kann. Es ist schon manch einer bei strahlend blauem Himmel und angenehmen Temperaturen im Tal losmarschiert, nur um auf gerade mal 1000 Meter Höhe von Regen durchnässt und von eisigen Winden geschüttelt zu werden.
White Mountains:
Wasserfälle und Weitstreckenwanderer
Auch sollte man sich nicht ohne Wanderkarte auf den Weg machen – zwar sind die Routen gut markiert, im Regelfall mit breiten blauen, gelben oder weißen Farbbalken, doch nur anhand guter Karten lässt sich im Überblick nachvollziehen, wie man z.B. bei einem Schlechtwettereinbruch die Strecke abkürzen kann oder wo man die nächste Schutzhütte findet. Auf Wander-Apps alleine gestellt sollte man hier keineswegs loslaufen, denn Empfang ist nicht überall gewährleistet. Hinzu kommt, dass bei vielen Apps jeder Freizeitwanderer eigene Routen einstellen kann, deren Verlauf nicht gesichert begehbar ist. „Analoge Wanderkarten“ sind bei allen großen Ranger-Stationen erhältlich. Idealer Ausgangspunkt für Tagestouren in die Whites ist z.B. Franconia nördlich von Grafton Notch und Franconia Notch. Zahllose malerische Wasserfälle und Bergseen sprenkeln hier die Landschaft. Der ursprünglich wohl schönste Katarakt, „The Flume“, ist allerdings in ein massenbesucherfreundliches Korsett aus meterbreiten asphaltierten Spazierwegen, Leitern, Treppen und Aussichtsplattformen gezwängt. Ein bejammernswerter Anblick, für den auch noch Eintrittsgeld fällig wird.
Zwar nicht gerade menschenleer, aber doch weitgehend „naturbelassen“ sind viele andere Wanderwege. Und sobald man sich aus dem unmittelbaren Einflussbereich der großen Parkplätze heraus bewegt hat, kann es gelegentlich sogar – zumindest für deutsche Maßstäbe – recht einsam werden. Tageswanderungen, die als Rundweg angelegt sind, gibt es leider nicht in der Vielfalt, wie man es von europäischen Wandergebieten gewohnt ist. Wer genug Zeit und Kondition mitbringt, kann sich stattdessen an etlichen mehrtägigen Strecken versuchen, sollte aber zumindest in der Hauptsaison die Hüttenübernachtungen vorreservieren oder ein Zelt mitnehmen. Viele Routen sind landschaftlich wunderschön und lohnen die Mühsal mit grandiosen Panoramablicken. Besonders hervorzuheben ist der Weg über die „Presidential Range“, eine Kette von Gipfeln, die alle nach amerikanischen Präsidenten benannt sind. Neugierige sollten hier auf Wegmarkierungen des „Appalachian Trail“ achten. Mit ein wenig Glück kann man zwischen Juli und September auf diesem Trail „Thru-Hiker“ treffen, jene fast legendären Langstreckenwanderer, die in den wenigen warmen Monaten die gesamte Bergkette der Appalachen von Georgia im Süden bis Maine im Norden an einem Stück zurücklegen.
„Kulturlandschaften“ in den Green Mountains
Nicht ganz so steil, zerklüftet und anstrengend sind die Berge der Green Mountains, weiter südwestlich in Vermont. Die Landschaftsformation ist eher einem typischen Mittelgebirge vergleichbar und auch das Wetter ist anders – es kommt ganzjährigen zu stärkeren Niederschlägen, was feuchtwarme fast tropische Sommer und schneereiche Winter nach sich zieht. Wer bei diesem Klima nicht wandern mag, findet hier genug andere Zerstreuungsmöglichkeiten. Insbesondere das südliche Vermont und das westliche Massachusetts haben von Musik- und Theaterfestivals über diverse Museumsdörfer bis hin zum MassMocca, dem größten Museum für moderne Kunst in Nordamerika, einiges zu bieten. Die im MassMocca gebotene Ästhetik ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber für jeden, der sich auf die regelmäßig wechselnden und meist ziemlich schrägen Inszenierungen einlässt, absolut sehenswert. Auch kulinarisch kann sich die Region mit europäischen Maßstäben messen – obwohl der Nordosten nicht ganz zu Unrecht in dem Ruf steht, sich bei der „Boston Tea Party“ zwar politisch, aber nicht kulinarisch von England losgesagt zu haben. Während in Maine der „Lobster“ eine zentrale (und etwas einseitige) Rolle in der Küche einnimmt, bezieht sich die erfreulich vielseitige Vermonter Küche auf alles, was Wald und Flur hergibt: So bekommt man hier zentimeterdicke Blaubeerpfannkuchen, mit Ahornsirup glasierten Wachteln, Wild in verschiedenen Variationen und anderes mehr. Um das gastliche Vermont von seiner besten Seite zu erleben, sollte man unbedingt in einem der familiären Country-Hotels einkehren. Ruhige Zimmer, unglaublich nette Besitzer und ein riesiger Garten, in dem sich sowohl Elche wie auch Kolibris tummeln, machen z.B. die „Misty Mountain Lodge“ in Wilmington zu einer schönen Reiseerinnerung. Ganz in der Nähe befindet sich auch „The Hermitage“, ein Restaurant mit erstaunlicher Weinkarte und einheimischen Spezialitäten im gehobenen „französischem Stil“.
Wer derart entspannt Reiseerinnerungen sammeln möchte, statt die Gegend nur zu durcheilen, muss das Lenkrad spätestens an dieser Stelle wieder Richtung Boston einschlagen – denn die eingeplanten zwei Wochen sind leider schon vorbei. Aber die südlichen Neuengland-Staaten mit den schicken Badeorten und pittoresken Hafenstädten kann man sich ja beim nächsten Mal vornehmen. In aller Ruhe – versteht sich!
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